Das Maß eines Monsters: Kapital, Klasse, Konkurrenz und die Finanzmärkte

Experten sprechen von der weltweiten ‘Kreditklemme’ als der potentiell schlimmsten Krise, die den Kapitalismus seit dem New Yorker Börsencrash von 1929 und der dann einsetzenden Weltwirtschaftskrise befallen habe. Solche Vergleiche scheinen uns von zweifelhaftem Wert zu sein. Sicherlich müssen wir aber die Ursprünge, das Wesen und die Bedeutung der gegenwärtigen Finanzkrise zu verstehen versuchen. Vor allem müssen wir sowohl das Potential als auch die Gefahren, die sie für uns birgt, verstehen. Dazu im Folgenden zwei Analysen. In der ersten vertritt Christian Frings die Position, dass die neoliberale ‚Finanzialisierung’ eine Antwort auf soziale Kämpfe war und die jetzige Krise antikapitalistischen Bewegungen neue Möglichkeiten eröffnet. Im zweiten Text (unten) argumentiert David Harvie, der Finanzsektor sei von zentraler Bedeutung für die wettbewerbsmäßige Berechnung, die Akkumulation und den Klassenkampf, was die gegenwärtige Krise zu einer Krise sowohl des Maßes als auch des Kapitals mache.

– Turbulence 

“Die internationalen Finanzmärkte haben sich zu einem Monster entwickelt, das in die Schranken gewiesen werden muss.”

– Horst Köhler, Bundespräsident der BRD und ehemaliger Geschäftsführender Direktor des IWF

Die Zahlen, die im Zusammenhang mit den Finanzmärkten genannt werden, sind kaum zu fassen. Eine Wertgröße, die dem jährlichen Gesamtprodukt der Weltwirtschaft entspricht, wechselt auf den Finanzmärkten innerhalb von sechs Tagen die Hände! Manchmal – zum Beispiel jetzt, inmitten der ‘internationalen Kreditkrise’ – scheint der Finanzsektor außer Kontrolle zu geraten. Ein Chor von Stimmen erhebt sich, um – wie Horst Köhler, aber auch, um ein Beispiel aus der Linken zu nennen, Walden Bello – die Finanzmärkte zu verurteilen und seine Regulierung zu fordern.

Handelt es sich bei der regen Tätigkeit auf den Finanzmärkten nur um ‘Spekulation’? Oder um ein Indiz für die Flucht des Kapitals aus einer ‘stagnierenden Realwirtschaft’, d. h. aus einer ‘Produktion’, in der das Kapital mit der lebendigen Arbeit zu kämpfen hat, wenn es Mehrwert abpressen will? Sicherlich ist ein Großteil der Aktivitäten auf den Finanzmärkten in dem Sinne spekulativ, dass WertpapierhändlerInnen in der Hoffnung, einen Profit zu machen, Risiken eingehen. Aber so gesehen ist alles, was KapitalistInnen tun, spekulativ. Nichts ist spekulativer als Geld in die Produktion zu werfen, also Produktionsmittel einschließlich Arbeitskraft zu erwerben, um dann die lebenden, kämpfenden, hoffenden TrägerInnen dieser Arbeitskraft hart genug arbeiten zu lassen, um dem Investoren einen Profit zu bescheren.

Es geht aber nicht nur um Spekulation. Tatsächlich führen Diskussion darüber, inwiefern es auf den Finanzmärkten in erster Linie um ‘Spekulation’ geht, oder auch darüber, ob die Finanzmärkte eine ‘stabilisierende’ oder ‘destabilisierende’ Wirkung haben, leicht in eine Falle. Schnell entsteht der Eindruck, Investitionen in die ‘Realwirtschaft’ – also in die Akkumulation entfremdeter Arbeit in Fabriken, auf Feldern, in Call Centern und Schulen – seien irgendwie ‘ethischer’. Diese Sorte Kritik am Finanzsektor verfehlt noch dazu dessen wichtigste Funktion, die uns direkt zum Kern der Kapitalakkumulation, der Konkurrenz, der Klassenfrage und des Klassenkampfes bringt.

Auf den Finanzmärkten – und insbesondere bei jenen geheimnisvollen ‘Derivaten’ – geht es immer um Fragen des Maßes, also um die Messung von Wertschöpfung und Kapitalakkumulation. Derivate erlauben es, die verschiedenen (in der Zeit, im Raum und über verschiedene Sektoren verteilten) ‘Bestandteile’ des Kapitals wertmäßig zu einander in Beziehung zu setzen oder kommensurabel zu machen. Derivate machen sogar aus dem sehr ungewissen Wesen des Werts, also aus seiner Anzweifelbarkeit, eine handelbare Ware. 

Die ‘Leistung’ eines Vermögenswertes (also die ‘Leistung’ des ihm entsprechenden ‘Bestandteils’ des Kapitals, einschließlich der von ihm ausgebeuteten ArbeiterInnen) kann über seine Ertragsrate gemessen werden. Das bedeutet, dass jeder Vermögenswert, wenn er nicht verfallen soll, eine wettbewerbsfähige Ertragsrate aufweisen muss. Mit anderen Worten, er muss den auf dem Markt etablierten durchschnittlichen Ansprüchen entweder entsprechen oder sogar noch besser sein. FinanzinvestorInnen, SpekulantInnen – wie wir sie nennen, ist egal – interessiert es nicht, ob sie mit Kakao-futures, dem argentinischen Peso oder einem mit dem DAX verbundenen Index handeln. Sie streben einfach nach der höchst möglichen Ertragsrate (unter Berücksichtigung der Risiken). Und so wird, durch ihr Marktverhalten, die ‘Leistung’ der ‘führenden’ hundert Konzerne mit der ‘Leistung’ der gesamten argentinischen Wirtschaft und der Kakaobauern in aller Welt verglichen (ist die argentinische Wirtschaft ‘stark’, wird der Wert des Peso steigen). Die Folgen für die ArbeiterInnen der Welt sind klar. Gemessen wird unsere ‘Leistung’. Die Leistung der Arbeiterin in einer Detroiter Autofabrik kann nicht nur mit der ihres Nebenmannes am Fließband (oder auch mit der einer entsprechenden Arbeiterin in Alabama oder Südkorea), sondern auch mit der von TextilarbeiterInnen in Marokko, ProgrammiererInnen in Bangalore oder Putzkräften in der Londoner U-Bahn verglichen werden. Die Konkurrenz wird verstärkt, ebenso der Klassenkampf.

Und somit kommen wir zur gegenwärtigen Krise. Der Ursprung der Krise waren die KreditnehmerInnen mit geringer Bonität (so genannte subprime Kreditnehmer) und die als collateralised debt obligations (CDOs) bekannten Kreditforderungen, die eine an die Hypotheken der Kreditnehmenden gekoppelte Form von Derivaten sind. Nicht nur ist unser Zugang zu Wohnmöglichkeiten von den Transaktionen der KapitalistInnen abhängig. Nicht nur ist unser Kampf um ein Dach über dem Kopf für InvestorInnen zu einer Gelegenheit geworden, Profit zu machen. Sogar unsere ‘Leistung’ als KreditnehmerInnen wird vom internationalen Finanzmarkt gemessen. Sie wird an diesen Markt gekoppelt – und damit auch an die Leistung aller übrigen Vermögenswerte, von den ProgrammiererInnen und Putzkräften bis zu den BäuerInnen und TexilarbeiterInnen. Kurz, wir werden – sowohl in unserer Reproduktionstätigkeit als auch bei der Lohnarbeit – zu Subjekten wettbewerbsmäßiger Berechnung.

Wer in die an Hypotheken angebundenen CDOs investiert hatte, glaubte offenbar, dass die KreditnehmerInnen, ob subprime oder nicht, ebenso wie die US-Wirtschaft als Ganzes, ‘Leistung erbringen’ würden – dass also US-amerikanische HausbesitzerInnen und ArbeiterInnen der Rolle, die ihnen in der wettbewerbsmäßigen Berechnung zugedacht worden war, gerecht werden würden. Natürlich würde ein kleiner Teil der KreditnehmerInnen die erwartete ‘Leistung’ nicht ‘erbringen’, aber solche Risiken waren bereits sämtlich in den ‘Risiko-und-Ertrags-Profilen’ (risk-and-return-profiles) der CDOs zur Kenntnis genommen, waren berechnet und bewertet worden. Tatsächlich versagten dann aber viel mehr KreditnehmerInnen als vorhergesehen die erwartete Leistung. Als es zu immer mehr Zahlungseinstellungen kam, war das gesamte Finanzsystem bedroht.

Einerseits geht es in dieser Krise um den Konflikt zwischen Bedürfnissen und Profiten: zwischen unserem Bedürfnis nach einer Wohnmöglichkeit und dem Bedürfnis der InvestorInnen – oder des Kapitals – nach einer Ertragsrate. Wie alle Krisen zeigt auch diese, dass unser Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum, beispielsweise zu Wohnmöglichkeiten, durch Geld rationiert wird. Um das zu verstehen, genügt es, sich anzusehen, wie sich die als tent cities (Zeltstädte) bekannten amerikanischen Elendssiedlungen ausbreiten, während Häuser aus Holz, Ziegelstein und Mörtel aufgrund von Zahlungsunfähigkeit leer stehen.

Andererseits ist die gegenwärtige Krise aber auch eine Krise des Maßes. InvestorInnen haben Risiken falsch eingeschätzt. Sie haben sich verrechnet. Jetzt sprechen die Banken über am Markt vorzunehmende ‘Korrekturen’. Interessant ist an dieser Krise weniger, dass Finanzinstitutionen eine Menge Geld verloren haben (bis jetzt sind 300 Milliarden US-Dollar ‘abgeschrieben’ worden), sondern dass sie fast ein Jahr später immer noch nicht genau wissen, wie viel. Die gesamte Krise hindurch sind die Finanzmärkte nicht im Stande gewesen, Wert zu messen und Kapital wertmäßig vergleichbar (kommensurabel) zu machen. Kapital muss, um Kapital sein zu können, kommensurabel gemacht werden. Wenn ‘Bestandteile’ des Kapitals nicht gemessen und als so und so viele Dollar oder Euro in Bilanzrechnungen eingetragen werden können, dann sind es eben nur so und so viele Barrel Rohöl oder so und so viele Tonnen Kaffee: Ihr Stellenwert als Kapital ist bedroht. Daher ist jede Krise des Wertmaßes eine Krise des Kapitals, und damit des Kapitals selbst.

Der Widerstand gegen die wettbewerbsmäßige Berechnung muss Teil unserer Politik sein. Die subprime KreditnehmerInnen haben dieses Potenzial auf negative Weise aufgezeigt: In den USA hat eine (überwiegend schwarze) ArbeiterInnenklasse eine Krise ausgelöst, indem sie die für sie vorgesehene Rolle und die darin implizite Berechnung verweigert hat. Die Herausforderung besteht darin, einen positiven Rahmen für diese Macht zu entwickeln.

Subprime KreditnehmerInnen sind solche mit ‘schlechter Bonität’, also Personen ohne gesichertes Einkommen oder Kapitalbesitz, die womöglich bereits frühere Darlehen nicht haben zurück zahlen können – kurz, die Prekären!

Derivate sind Finanzinstrumente, deren Wert – jedenfalls im Prinzip – vom Preis eines ihnen zugrunde liegenden Gutes, Vermögenswertes oder mehrerer Vermögenswerte abgeleitet ist. Futures sind beispielsweise Verträge, in denen der Tausch eines bestimmten Gutes oder Vermögenswertes zu einem zukünftigen Termin und zu einem vorher fest gelegten Preis vereinbart wird. Optionen funktionieren ähnlich wie futures, mit dem Unterschied, dass sie ihrem Besitzer das Recht geben, entweder zu kaufen oder zu verkaufen, ihn aber nicht dazu verpflichten. Swaps sind bilaterale Vereinbarungen über den Tausch von Zahlungsströmen oder Forderungen. Zum Beispiel kann ein in japanischen Yen bewertetes Darlehen mit Gleitzins gegen ein in US-Dollar zurück zu zahlendes Darlehen ohne Gleitzins getauscht werden. In der Praxis werden Preise meist auf den Derivatenmärkten bestimmt und die Preise der zugrunde liegenden Aktivposten oder Waren dann von diesen Derivatenpreisen abgeleitet. Damit wird der Preis, den eine guatemaltekische Kaffeeanbauerin für ihre Ernte erhält, faktisch von der London International Financial Futures and Options Exchange (LIFFE) bestimmt – die übrigens 1999 während des Carnival Against Capital besetzt wurde. Derivate können an Waren wie Kaffee, Kakao, Saumägen, Öl usw. gekoppelt sein, aber auch an Aktien oder Aktienindexe (z. B. den FTSE100), Zinsraten, Devisen… Es gibt mittlerweile sogar Derivate, die auf dem Wetter basieren. Einige Monate lang existierte ein ‘Politikanalysenmarkt’ (policy analysis market), der es erlaubte, mit Putschen, politischen Morden und terroristischen Anschlägen zu wirtschaften.

In den 1970er Jahren (ebenfalls einem Jahrzehnt steigender Ölpreise), betrieben westliche Banken das so genannte petrodollar-recycling und boten Regierungen in der ‘Dritten Welt’ Darlehen mit Gleitzins an, wodurch ganze Ökonomien den Bemessungsverfahren und der Disziplin der internationalen Finanzmärkte ausgesetzt wurden. Die wirkliche Bedeutung dieser Disziplin wurde in der internationalen Schuldenkrise der 1980er Jahre sowie in den verschiedenen Finanzkrisen seit den 1990er Jahren deutlich.

Kredit kommt vom lateinischen credere, glauben.

David Harvie ist Mitglied der Free Association und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Turbulence.

English original here.

 

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