Klassenkampf und Krise: Futures and Options

Experten sprechen von der weltweiten ‘Kreditklemme’ als der potentiell schlimmsten Krise, die den Kapitalismus seit dem New Yorker Börsencrash von 1929 und der dann einsetzenden Weltwirtschaftskrise befallen habe. Solche Vergleiche scheinen uns von zweifelhaftem Wert zu sein. Sicherlich müssen wir aber die Ursprünge, das Wesen und die Bedeutung der gegenwärtigen Finanzkrise zu verstehen versuchen. Vor allem müssen wir sowohl das Potential als auch die Gefahren, die sie für uns birgt, verstehen. Dazu im Folgenden zwei Analysen. In der ersten (unten) vertritt Christian Frings die Position, dass die neoliberale ‚Finanzialisierung’ eine Antwort auf soziale Kämpfe war und die jetzige Krise antikapitalistischen Bewegungen neue Möglichkeiten eröffnet. Im zweiten Text argumentiert David Harvie, der Finanzsektor sei von zentraler Bedeutung für die wettbewerbsmäßige Berechnung, die Akkumulation und den Klassenkampf, was die gegenwärtige Krise zu einer Krise sowohl des Maßes als auch des Kapitals mache.

– Turbulence

Seit August 2007 steht es schlecht um die futures des Kapitalismus. Blitzartig, innerhalb von Tagen und Wochen, breitete sich die Krise der Finanzmärkte über den ganzen Globus aus. Was als lokal begrenztes Ereignis begonnen hatte, erschütterte Börsen und Banken auf allen Kontinenten. Und es ist längst nicht vorbei. Die Krise hat sich in mehreren Wellen entwickelt. Nach jeder erneuten dramatischen Zuspitzung und ebenso hektischer Intervention von Staat und Zentralbanken wurde das baldige Ende der Krise verkündet. Aber trotz aller Staatseingriffe lässt sich die Talfahrt nicht bremsen. Wenn der deutsche Bundespräsident die Finanzmärkte als „Monster“ bezeichnet, erinnert er an den Mythos von Frankenstein, den schon Marx zitierte, um die rätselhafte Verdinglichung des Kapitals zu beschreiben: „by incorporating living labour with their dead substance, the capitalist at the same time converts value, i.e., past, materialised, and dead labour into capital, into value big with value, a live monster that is fruitful and multiplies.“ Die Herrschenden werden selbst beherrscht, von einer anonymen Macht, die sie zwar verteidigen, deren Logik sie aber nicht verstehen.

Jede Krise ist ein Hinweis auf die historische Endlichkeit des Kapitalismus. Wenn sich die ‚Futures’ der Kapitalisten und Herrschenden nicht erfüllen, entstehen Optionen der Bewegungen von unten. Darin liegt keine Zwangsläufigkeit, aber die Optionen der Bewegungen sind heute ungleich größer als vor hundert oder zweihundert Jahren. Was heute auf der Tagesordnung steht, ist nicht eine institutionelle Bereinigung wie die Rückkehr zu einer strengeren Regulierung von Märkten. Danach rufen heute viele, selbst große Teile der Linken, die in der Krise nur einen Ausdruck neoliberaler Übertreibungen sehen. Die Finanzialisierung ist jedoch selbst nur Ausdruck einer fundamentalen Krise, die das kapitalistische System als globales Ganzes betrifft, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat.

Ende der 60er Jahre war dieses System in die Krise geraten. Nicht einfach durch innere Gesetzmäßigkeiten des Kapitals und der Konkurrenz, sondern vor allem durch den gleichzeitigen Druck von ArbeiterInnen überall auf der Welt. Das veränderte den Verlauf der Krise deutlich. Die Herrschenden scheuten davor zurück, die Last der Krise auf die ArbeiterInnen abzuwälzen, um die Profitraten zu sanieren. Auch wenn es heute vergessen ist, damals war es Tagesgespräch. Nach dem Pariser Mai 1968 und dem Massenstreik gab De Gaulle jeden Versuch auf, zum Goldstandard zurückzukehren, sondern erlaubte inflationäre Lohnsteigerungen. In Italien war der Slogan „Arbeiter produzieren die Krise“ verbreitet. Linke Ökonomen entwickelten die Theorie der „profit squeeze“, in der die Lohnsteigerungen, die von militanten Streikbewegungen durchgesetzt wurden, einen entscheidenden Einfluss auf den Verfall der Profitrate hatten. Wieder andere zeigten, dass die sinkenden Produktivitätssteigerungen auf die zunehmende Ablehnung der eintönigen Fließbandarbeit und Unwirksamkeit bürokratischer Kontrolle der Arbeitskräfte zurückzuführen war.

Die Entdeckung des „subjektiven Faktors“ in der marxistischen Krisentheorie in den 70er Jahren war also kein Zufall, sondern theoretischer Ausdruck einer praktischen Bewegung und einer tatsächlichen Veränderung von historischer Tragweite. In früheren kapitalistischen Krisen, im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, waren die sozialen Bewegungen der ArbeiterInnen meistens eine Reaktion auf die Krisen des Kapitals gewesen. Es schien allein seinen eigenen inneren Gesetzen zu folgen. Sein Fetischcharakter schien ungebrochen, und daran orientierte sich auch die theoretische Beschäftigung mit der Krise. Die Welle von Klassenkämpfen der 60er und 70er Jahre hat die Infragestellung dieses Fetischcharakters wieder aktuell gemacht. Wir produzieren Geschichte und unsere Kämpfe haben einen Einfluss auf die Entwicklung des Kapitals.

Durch den Gegenangriff des Neoliberalismus und der staatlichen Repression gegen die Bewegungen, durch Arbeitslosigkeit und Austerität, wurde diese subversive Subjektivität der Weltgeschichte wieder verdrängt. Die Macht des Geldes und der Fetisch des Kapitals erhielt mit dem Boom der 90er Jahre neue Legitimität. Aber es war keine Lösung. Die Finanzialisierung war die Flucht des Kapitals aus der Produktion und die Illusion einer rein monetären Kapitalverwertung. Diese Flucht war von immer häufiger auftretenden Krisen begleitet: Börsencrash 1987, 1995 Tequilakrise von Mexiko aus, 1997 Asienkrise, 1998 LTCM- und Russlandkrise, 2000 das Ende des New-Economy-Hypes. Geradezu verwundert zeigen sich die Herrschenden, dass keine dieser Krisen das gesamte globale System in den Abgrund zog wie 1929. Das hat sich jetzt geändert und in den USA macht bereits das Wort vom „global slump of 2008-09“ die Runde. Ausschlaggebend dafür ist die massive Explosion des Derivatehandels in den letzten zehn Jahren und seine internationale Verzahnung. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Suche nach profitablen Anlagen immer verzweifelter, immer spekulativer und immer waghalsiger geworden ist. Die Simulation der Kapitalverwertung durch Finanzialisierung lässt sich nicht ins Unendliche fortsetzen. Das ist es, was heute sichtbar wird. Auch darin drückt sich, in versteckter Form, der nach wie vor anhaltende Druck der globalen Arbeiterklassen aus, der einer neuen Intensivierung der Ausbeutung im Wege steht.

Historisch ist die Flucht des Kapitals aus der Überakkumulation in die Finanzialisierung nicht neu. Schon in früheren Zyklen der Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems konnten die das System beherrschenden und organisierenden Mächte, wie die Niederlande im 18. und das britische Empire im 19. Jahrhundert, ihren Niedergang nach dem Akut-Werden der Überakkumulation für 30 oder 40 Jahre durch den Wechsel in die Finanzgeschäfte hinauszögern und die Ernte ihrer Vormachtstellung einfahren. Giovanni Arrighi und Beverly Silver haben in ihren Analysen die Entdeckung des „subjektiven Faktors“ in der Krisentheorie mit der welthistorischen Dynamik des Kapitalismus verbunden. Das führt nicht zu einer tristen Wiederholung der immer selben Scheiße vom Auf- und Abstieg der Imperien des Kapitals, sondern zu der Entdeckung, dass die Macht der Ausgebeuteten im Weltsystem tendenziell zugenommen hat. Mit jedem Wechsel ist ihr Einfluss auf die Gestalt und den sozialen Charakter des System größer geworden. Was wir zur Zeit erleben, ist der definitive Beginn des Endes eines kapitalistischen Zyklus, der sich trotz der Barbareien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter US-amerikanischer Ägide noch ein mal entwickeln konnte. Niemand kann voraussagen, wie sich die sozialen Bewegungen von unten in den nächsten Monaten und Jahren in diese Krise einbringen und der Welt ein neues Gesicht geben werden. Wir können aber feststellen, dass unsere Optionen und unsere Macht, in die Geschichte einzugreifen deutlich größer geworden sind. Ein erstes Anzeichen dafür sind die Arbeiterkämpfe von China über Osteuropa bis Ägypten und die Hungerkrawalle auf allen drei Kontinenten, die sich schon jetzt in überraschender Schnelligkeit und Gleichzeitigkeit gegen die Krise entwickeln.

Christian Frings

Die Tendenz zur Überakkumulation, also zu einer Situation, in der zu viel Kapital zu wenigen profitablen Investitionsmöglichkeiten gegenüber steht, ist eine der Hauptkrisentendenzen kapitalistischer Ökonomien. Der von unserer Arbeit produzierte Mehrwert muss jeden Tag wieder irgendwo investiert werden. Wenn KapitalistInnen diesen Mehrwert nun aus irgendeinem Grund (ArbeiterInnenkämpfe, gesättigte Märkte, gesetzliche Vorschriften) nicht auf profitable Art und Weise in Produktion für existierende Märkte investieren können, müssen sie entweder neue Märkte öffnen, oder den Preis bestehender Vermögenswerte hochbieten (Immobilien, Aktien, Währungen…). Dies ist die Ursache der vielen Finanzblasen und –krisen, die wir in den letzten 15 Jahren erlebt haben.

Finanzialisierung beschreibt die massive Ausweitung finanzieller Instrumente, zum Beispiel Derivate, während der letzten 30 Jahre, sowie die wachsende Macht finanzieller Institutionen (Banken, Ratingagenturen, Hedge Fonds) gegenüber anderen sozialen Kräften.

Christian Frings lebt in Köln und beschäftigt sich seit längerem mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems, respektive seiner Überwindung durch die Kämpfe der globalen Arbeiterklassen.

English translation here. Dutch translation here.

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